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Leinwand auf welcher ein Interview gezeigt wird

Ein neuer Blick auf die immer komplexere Welt

29.07.2020

Viele Menschen nehmen die Welt als zunehmend komplex und unübersichtlich wahr. Und das zu Recht. Nicht zuletzt die Coronapandemie zeigt die enge Verflechtung verschiedenster Bereiche. Mögliche Lösungen für die großen Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht – etwa demografische Entwicklung, Klimawandel oder Digitalisierung –, werden von 27. bis 29. August 2020 bei den heurigen Alpbacher Technologiegesprächen diskutiert. Dieses traditionelle Treffen findet heuer Corona-bedingt in einem innovativen Format statt.

Mit der Coronapandemie hat gewissermaßen eine neue Zeitrechnung begonnen, in der vieles, was uns bisher als selbstverständlich schien, nicht mehr gilt. Fundamentale Grundlagen unseres Lebens und Wirtschaftens sind ins Wanken geraten. „Die Coronapandemie hat eine Reihe von Schwachstellen des heutigen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems offengelegt und weiter verschärft“, sagt Hannes Androsch, Vorsitzender des Steering Committees der Alpbacher Technologiegespräche. Zu dieser Veranstaltung, die vom AIT Austrian Institute of Technology gemeinsam mit ORF Radio Ö1 organisiert wird, reisen seit 1983 alljährlich Ende August mehr als 1000 Expert*innen, Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Wirtschaftstreibende und Interessierte in die Tiroler Berge; heuer werden die Technologiegespräche Corona-bedingt in neuer, innovativer Form als live gestreamtes Symposium stattfinden.

Androsch nennt ein Beispiel für die Komplexität unserer Zeit: Die Globalisierung und die Ausweitung der Liefer- und Wertschöpfungsketten auf die ganze Welt haben zwar in den vergangenen Jahrzehnten große Effizienzgewinne mit sich gebracht und geholfen, Millionen von Menschen aus der Armut zu befreien. Doch nun zeigt sich auch, wie verletzlich dieses System ist: Sobald es an einer Stelle ein Problem gibt, kann sich diese Störung kaskadenartig im gesamten Netzwerk ausbreiten und die Produktion ganzer Wirtschaftszweige lahmlegen.

Systemische Krisen

„Deutlicher als jemals zuvor wird nun sichtbar, dass wir in einer tiefen systemischen Krise stecken, in der viele Krisenerscheinungen einander überlagern und beeinflussen“, so Androsch. Das beginnt bei Umweltthemen wie dem Klimawandel, dem Biodiversitätsverlust und der Umweltverschmutzung und reicht über wirtschaftliche Probleme wie Stagnation, weit verbreitete Armut und Ungleichheit bis hin zu demografischen Ungleichgewichten, Migration und Anpassungsschwierigkeiten an die Digitalisierung. Und nun werde diese Mehrfachkrise noch von der Corona-Pandemie und ihren Folgen überlagert: „Dies macht es noch schwieriger, die langfristigen Herausforderungen der Zukunft zu meistern“, führt Androsch im Vorwort des diesjährigen Jahrbuches zu den Alpbacher Technologiegesprächen aus, das sich heuer dem Thema „Komplexität“ widmet.

Eine intensive Beschäftigung damit, wie komplexe Systeme funktionieren und wie man sie in eine erwünschte Richtung beeinflussen könnte, ist unerlässlich. Denn: „Wenn wir ehrlich sind, sind wir zur Bewältigung der großen Zukunftsthemen zurzeit schlecht oder gar nicht gerüstet.“

Unsere Gesellschaft und unser Wirtschaftssystem von einer hohen Konnektivität geprägt seien: Weltumspannende Netzwerke des Handels und der Kommunikation bis hin zu Social Media durchdringen alle Lebensbereiche und lassen neue Lebensstile und Verhaltensmuster entstehen. Darüber hinaus besteht eine hohe Interdependenz zwischen vielen verschiedenen Bereichen. So lässt sich beispielsweise Klimapolitik nicht ohne Digitalisierung denken, Migrationsfragen lassen sich nicht ohne grundlegende wirtschaftspolitische und ökologische Überlegungen lösen, usw.

Buchcover mit der Aufschrift: "Technologie im Gespräch - Komplexität"

Cover des Jahrbuches zu den Alpbacher Technologiegesprächen 2020

Technologie im Gespräch - Komplexität
von Hannes Androsch, Wolfang Knoll, Anton Plimon (Hg./eds.)

Kipppunkte und nichtlineares Verhalten

Wegen der innigen Verknüpfung vieler Variablen, die einander auf vielen Ebenen beeinflussen, zeigen all diese Systeme ein komplexes Verhalten: Sie zeigen Reaktionen, mit denen man nicht rechnen würde. Komplexe Systeme weisen beispielsweise Kipppunkte auf, an denen sie ihre Eigenschaften sprunghaft verändern. Das ist etwa im Klimasystem der Fall: Wenn durch die Erwärmung Permafrostböden auftauen, werden große Mengen an Methan freigesetzt, die die Erwärmung weiter beschleunigen und eine unumkehrbare Entwicklung einleiten.

Komplexe Systeme überraschen uns weiters mit Kaskadeneffekten, in denen sich eine Veränderung – wie ein Schneeball, der im Herabrollen von einem Berg immer größer wird – durch das gesamte System ausbreitet. Ein weiteres Phänomen ist der sogenannte Schmetterlingseffekt, durch den sich eine kleine Ursache zu riesigen Konsequenzen in einem ganz anderen Bereich auswachsen kann.

Bei komplexen Systemen ist man überdies häufig mit nichtlinearen Veränderungen konfrontiert – etwa mit exponentiellem Wachstum, wie wir es jüngst bei der Ausbreitung des Coronavirus beobachten mussten. Mit solchen Eigenschaften komplexer Systeme können wir nur schwer umgehen. Wir tun uns sehr schwer, vielschichtige Beziehungsnetzwerke zu überblicken, sie überfordern unsere Auffassungsgabe. „Diese Unübersichtlichkeit führt zu Ungewissheit und Unsicherheit, sie erschwert auch die Steuerung von komplexen Systemen durch politische Entscheidungen“, so Androsch. „Wir benötigen daher dringend neue Methoden, um komplexe Systeme erfassen und analysieren zu können.“

Methoden zur Erforschung komplexer Systeme

Damit beschäftigt sich die relativ junge Wissenschaft der Komplexitätsforschung – in Österreich federführend durch den Complexity Science Hub (CSH) Vienna vertreten. „Bei komplexen Systemen gibt es häufig ein Henne-Ei-Problem: Man kann im Allgemeinen nicht einfach angeben, welche Veränderung die Ursache und welche die Wirkung ist“, erläutert der Leiter des CSH Vienna, Stefan Thurner, in seinem Beitrag zum Jahrbuch. Eine zentrale Forschungsaufgabe ist es, Methoden zu entwickeln, mit denen die Eigenschaften und vielfältigen Beziehungen in komplexen Systemen beschrieben und analysiert werden können – um sie dann in Computermodellen nachbauen zu können. Solche Methoden leisten derzeit auch im Zuge der Corona-Krise wertvolle Dienste: Thurner war Teil des Prognosekonsortiums des Gesundheitsministeriums und erstellte mit seinem Team ein epidemiologisches Modell zur Kurzfristprognose der Ausbreitung des Virus. Bei den Technologiegesprächen wird er gemeinsam mit international renommierten Kolleg*innen über erste Erkenntnisse aus der Pandemie und deren Folgen diskutieren.

Interdisziplinäres Denken erforderlich

Der Umgang mit den komplexen Zukunftsproblemen treibt auch Gerald Bast, den Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien, an. „Die wahrscheinlich größte Herausforderung besteht darin, in einer Welt der permanenten und gravierenden Veränderung nicht nur zu überleben, sondern trotz allem noch gestaltend eingreifen zu können. Die alten Methoden funktionieren nur mehr zum Teil“, macht er in seinem Beitrag zum Jahrbuch deutlich. „Die komplexen Probleme von heute sind nicht mehr aus der Sicht einer einzelnen Disziplin zu lösen.“ Eine Chance bieten seiner Überzeugung nach künstlerische Methoden, die herkömmliche wissenschaftliche Methoden ergänzen können. Künstler seien geübt darin, mit Ungewissen und mit Mehrdeutigkeit umzugehen, aus eingefahrenen Denkstrukturen herauszutreten und das Neue zu suchen. Dieses Wissen zu nutzen, sei daher ein Gebot der Stunde. „Es geht nicht darum, Ungewissheit auszuräumen – das wäre völlig vermessen und funktioniert gar nicht. Sondern es geht darum, Ungewissheit und Mehrdeutigkeit produktiv werden zu lassen“, so Bast. Er fordert daher, dass Menschen herangebildet werden müssen, die in der Lage sind, mit künstlerischen und wissenschaftlichen Methoden gleichermaßen zu arbeiten – „denn nur dann können sie alle Schichten des Wissens- und Erkenntniserwerbs nutzen“.

Alpbacher Technologiegespräche 2020

Die Alpbacher Technologiegespräche finden vom 27. bis 29. August im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach statt. Sie werden vom AIT Austrian Institute of Technology, Österreichs größter Research-and-Technology-Organisation, und ORF Radio Ö1 veranstaltet. Wissenschaftliche Partner der Alpbacher Technologiegespräche 2020 sind die Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren, Industrial partner ist die Industriellenvereinigung (IV). Die Veranstaltung wird vom österreichischen Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (BMK), vom Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort (BMDW) sowie vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) unterstützt.

Das Forum Alpbach und somit auch die Technologiegespräche finden heuer Corona-bedingt digital statt. Die hochkarätigen Plenary und Breakout Sessions werden in Alpbach live produziert und per Stream ausgestrahlt. Für die Online-Konferenz wird das Tool Hop-in verwendet. Die Teilnahmegebühr für alle Gespräche des Europäischen Forums Alpbach inkl. der Technologiegespräche beträgt einmalig 90 Euro. Dadurch soll so vielen Interessierten wie möglich die virtuelle Teilnahme an den Veranstaltungen ermöglicht werden.